Geowissenschaften Mit Fischschwärmen ist zu rechnen
Sie waren noch nie so weit im Norden, doch nun ziehen sogar Makrelen und Thunfische durch die Gewässer um Grönland. Infolge des Klimawandels verändern sich die Lebensräume vieler Arten. „Biologische Vorhersagen“ könnten Politik und Fischerei auf solche Veränderungen vorbereiten
Nur: Was sind biologische Vorhersagen? Menschen, die alljährlich von Heuschnupfen geplagt sind, kennen sie: die Vorhersagen zum Pollenflug. Der Clou dieser Vorhersagen ist, dass sie sich nicht auf Pollenzählungen stützen, sondern stattdessen auf Wetterinformationen. Obwohl es auch für einige Meeresorganismen operationelle Vorhersagen wie für den Pollenflug gibt, steckt die Entwicklung von biologischen Vorhersagen noch in ihren Kinderschuhen. Dabei haben sie ein großes Potenzial.
Weil Wasser die Wärme viel länger speichern kann als Luft, sind Vorhersagen der Meerestemperatur über einen viel längeren Zeitraum möglich. Unter anderem dank dieser hohen Wärmekapazität ist es in einigen Gebieten möglich, Veränderungen des Meeresklimas – also der Temperatur und auch des Salzgehaltes – einige Jahre im Voraus zu bestimmen. Der Nordatlantik ist so ein Gebiet – das haben Forscher:innen der Universität Hamburg anhand von Klimamodellen gezeigt. Dies birgt in dieser Region ein großes Potenzial für biologische Vorhersagen.
Im Rahmen unserer Arbeit wollten wir Veränderungen der räumlichen Verbreitung von Meeresorganismen besser verstehen, modellieren und schließlich vorhersagen. Dafür wählten wir eine Fischart, die im Nordatlantik weit verbreitet ist und von der es Beobachtungen aus einem halben Jahrhundert gibt: den Blauen Wittling. Er ist wenig bekannt, da er kein typischer Speisefisch ist. Meist wird er weiterverarbeitet zu Fischstäbchen, Fischfutter oder Omega-3-Öl. Sein Zuhause ist der Nordostatlantik, wo man ihn nördlich der Kanarischen Inseln über die Azoren bis nach Grönland und Spitzbergen antrifft.
Im Frühling treffen sich die zur Familie der Dorsche gehörenden Blauen Wittlinge zur Paarung in einem Gebiet westlich von Irland. Auf diesen Zeitpunkt warten viele Wissenschaftler:innen, da sie dann die Zahl der bis zu 50 Zentimeter langen Fische im Nordostatlantik schätzen können. Diese Information ist essenziell, um Fischer:innen kompetent zu beraten und nachhaltige Fangquoten zu ermitteln.
Problematisch ist jedoch, dass die Größe des Laichgebietes des Blauen Wittlings stark variiert. In manchen Jahren umfasst es einen schmalen Streifen entlang des europäischen Kontinentalschelfs westlich von Irland. In anderen Jahren ist es um ein Vielfaches größer; dann erstreckt sich das Laichgebiet vom Kontinentalschelf bis zum 500 Kilometer weiter westlich gelegenen Rockall-Plateau nordwestlich von Irland – einem Unterwassergebirge, dessen Gipfel aus dem Wasser ragen. Vorhersagen über die Lage und Größe des Laichgebietes wären daher sehr nützlich. Derartige biologische Vorhersagen könnten dazu beitragen, die Größe der Population korrekt abzubilden, und helfen, die Fischart nachhaltig zu bewirtschaften.
Seit Jahren vermuten Wissenschaftler:innen, dass Veränderungen des Meeresklimas das Laichgebiet des Blauen Wittlings beeinflussen. Aufgrund der spärlichen Datenlage konnte diese Vermutung jedoch bisher nicht überprüft werden. Wir konnten erstmals einen direkten und messbaren Zusammenhang zwischen Meeresklima und räumlicher Verbreitung des Laichgebietes des Blauen Wittlings herstellen.
Durch die Kombination von Beobachtungen der Larven des Blauen Wittlings und Beobachtungen des Meeresklimas gelang es uns, statistische Modelle der Artenverteilung zu erstellen. Diese Modelle, die ich zusammen mit Mark Payne am National Institute of Aquatic Resources an der Technical University of Denmark entwickelte, zeigen eine Ausdehnung des Laichgebietes über das Rockall-Plateau hinaus bei warmen und salzhaltigen Bedingungen. Bei kälteren und weniger salzigen Bedingungen zieht sich das Laichgebiet hingegen entlang des Kontinentalschelfs zurück, was frühere Untersuchungen bestätigt. Zudem fanden wir heraus, dass der Blaue Wittling seine Eier bevorzugt in Bereichen mit einem bestimmten Salzgehalt ablegt. Somit beschreibt unsere Arbeit nicht nur die Beziehung zwischen dem Blauen Wittling und seiner Umwelt, sondern macht sie auch messbar. Diese Quantifizierung der Beziehung zwischen dem Blauen Wittling und dem Meeresklima nutzten wir als Grundlage für biologische Vorhersagen.
Um biologische Vorhersagen zu erstellen, benötigt man zudem zuverlässige Vorhersagen des Meeresklimas auf der Basis dynamischer Erdsystemmodelle. Das sind komplexe Modelle, die Wechselwirkungen zwischen Atmosphäre, Land, Ozean und Meereis simulieren und so das Klimasystem repräsentieren. Mithilfe des Erdsystemmodells des Max-Planck- Instituts für Meteorologie und zusammen mit Forscher:innen vom Helmholtz-Zentrum Hereon und der Universität Hamburg untersuchten wir die Vorhersagbarkeit des Meeresklimas im Laichgebiet des Blauen Wittlings.
Da Vorhersagen für die Zukunft natürlich nicht überprüfbar sind, wird ihre Qualität in der Klimaforschung rückblickend bestimmt. Um herauszufinden, ob das Erdsystemmodell in der Lage ist, das Meeresklima zuverlässig vorherzusagen, haben wir also Vorhersagen für einen Zeitraum in der Vergangenheit gemacht und sie dann mit verschiedenen Beobachtungsdatensätzen verglichen. Dabei fanden wir heraus, dass zuverlässige Vorhersagen der Temperatur und vor allem des Salzgehaltes im Laichgebiet des Blauen Wittlings bis zu einem Jahr im Voraus möglich sind.
Somit kennen wir beide Voraussetzungen für eine Vorhersage des potenziellen Laichgebietes des Blauen Wittlings: Wir wissen erstens, wie das Meeresklima die Verbreitung des Laichgebietes beeinflusst – und dass zur Eiablage ein bestimmter Salzgehalt optimal ist. Zweitens können wir den Salzgehalt zuverlässig prognostizieren. Im nächsten Schritt verwendeten wir das Erdsystemmodell, um das potenzielle Laichgebiet des Blauen Wittlings vorherzusagen. Zunächst machten wir rückblickende Vorhersagen für den Salzgehalt im Nordostatlantik zur Paarungszeit des Blauen Wittlings. Unsere zuvor gewonnene Erkenntnis, dass der Blaue Wittling seine Eier in einem bestimmten Salzgehaltbereich legt, ermöglichte es uns nun, jene Gebiete zu lokalisieren, die als mögliches Laichgebiet dienen. So konnten wir physikalische Vorhersagen des Meeresklimas in biologische Vorhersagen übersetzen. Diese rückblickenden Vorhersagen des potenziellen Laichgebietes verglichen wir mit bereits existierenden Daten über den Blauen Wittling. Dabei zeigten ein- jährige Vorhersagen eine gute Übereinstimmung – insbesondere in der Region des Rockall-Plateaus.
Aus der Kombination physikalischer und biologischer Vorhersagen lassen sich relevante Informationen für Manager:innen, Politiker:innen und Stakeholder:innen ableiten. Sie haben ein großes Potenzial – gerade in Gebieten, in denen klimatische Veränderungen besonders stark sind oder die Bevölkerung abhängig von marinen Ressourcen ist. So kann deren Bewirtschaftung dynamischer, nachhaltiger und klimaresilienter werden.
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Groß und unsichtbar
Immer wieder kreuzen Wale die Routen großer Schiffe. Dank biologischer Vorhersagen lassen sich fatale Kollisionen verhindern
Mehr als 90.000 Schiffe durchqueren jeden Tag die Weltmeere. Diese Zahl steigt weiter – und damit auch die Gefahr für die größten Meeresbewohner. Jedes Jahr, so schätzen Expert:innen, werden rund 20.000 Wale Opfer von Zusammenstößen mit großen Schiffen. Weil die Kollisionen oft unbemerkt geschehen und die Kadaver rasch versinken, dürfte die Dunkelziffer viel höher liegen.
Ein Drama, wenn man bedenkt, wie bedroht viele der Walarten sind. Von dem knapp 20 Meter großen Nordkaper etwa gibt es noch 100, vielleicht 200 Tiere. Aufgrund des Klimawandels wandern sie immer weiter nordwärts, direkt in die Hauptschifffahrtsrouten Nordamerikas. Allein zwischen April 2017 und Januar 2018 kamen dort 18 Tiere zu Tode.
Mithilfe biologischer Vorhersagen könnten viele Wale gerettet werden. Wie das funktionieren kann, zeigt ein Team um Helen Bailey vom University of Maryland Center for Environmental Science. Bei WhaleWatch geht es um den Schutz von Blauwalen vor der Westküste der USA. Die Forscher:innen hatten Satellitendaten aus der Zeit von 1993 bis 2009 ausgewertet und diese mit den Zugrouten von markierten Walen kombiniert. „Danach wussten wir nicht nur, wohin die Wale ziehen, sondern auch warum.“ Denn die Satellitendaten enthalten nicht nur Wassertiefen und -temperaturen, sondern auch Parameter zum Nahrungsangebot.
Ähnlich wie bei Wettervorhersagen lassen sich auf der Basis dieser Daten nun tagesaktuelle Karten mit den wahrscheinlichen Aufenthaltsorten von Blauwalen bereitstellen. Auf deren Grundlage können Behörden Umleitungen oder Geschwindigkeitsbegrenzungen anordnen – zwei hochwirksame Methoden, die nun auf weitere Arten ausgeweitet werden.
Eine Studie der Meeresschutzorganisation Oceana dämpft allerdings den Optimismus. Vor der ebenfalls vielbefahrenen Ostküste der USA wird das Tempolimit von 10 Knoten zum Schutz der Wale demnach von fast 90 Prozent aller Schiffe ignoriert. Es müsste viel konsequenter kontrolliert und bestraft werden. — J. Schüring