Biologie In der Tiefsee liegt die Lösung
Eine Forschungsreise über den Nordatlantik, Proben aus der Tiefsee und ein großes Ziel: Plastik umweltfreundlich zu recyceln. Es geht um die Lösung eines globalen Umweltproblems, Bakterien könnten dabei helfen
Die Sonne geht auf. Die Welt um mich herum taucht sie in ein warmes, intensives Orange. Es ist ein wunderschöner Anblick. Ich bin müde, erschöpft von den langen Tagen und kurzen Nächten auf hoher See. Es ist 4 Uhr morgens, und die Seekrankheit, die mich seit zwei Wochen begleitet, lässt nicht locker. Mein Zuhause ist momentan das Forschungsschiff „Sonne“.
Das Wasser des Nordatlantiks nahe der Azoren rauscht an den Stahlwänden des Schiffes vorbei, ein gleichmäßiges, beruhigendes Geräusch. Ich stehe an der Reling, als unter mir ein Schatten auftaucht – eine Meeresschildkröte, die blitzschnell wieder in den Tiefen verschwindet. Es ist ein Moment der Ruhe, bevor ich mich wieder meiner Aufgabe widme: Ich sammle Proben vom Meeresgrund mit dem Ziel, meinen Teil dazu beizutragen, eines der größten Umweltprobleme unserer Zeit zu lösen. Es geht um Plastik.
Überquellende Müllberge und die sichtbaren Schäden an der Natur machen uns ständig bewusst, wie groß das Problem geworden ist. Jährlich werden weltweit über 400 Millionen Tonnen Plastik produziert, ein beachtlicher Teil davon landet in den Flüssen und gelangt so ins Meer. Einmal dort angekommen, wird dieser Abfall zur Gefahr für die Tiere, die Ökosysteme und letztlich für uns alle.
In den Ozeanen wird Plastik durch die Sonne ausgebleicht, vom Salz angegriffen und durch die Kraft der Wellen zu sogenanntem Mikroplastik zerkleinert. Je nach Beschaffenheit sinken die Kunststoffteilchen langsam, aber sicher auf den Meeresboden. Dort, in Tiefen von mehreren Kilometern, wird Plastik Teil der Lebenswelt der Tiefsee. Ich suche nach Wegen, wie sich dieser Plastikmüll effizient und umweltfreundlich auflösen lässt. Nicht mit Hitze, nicht mit aggressiven Chemikalien, sondern durch die Kraft der Natur selbst.
Ich nutze Enzyme, kleine, leistungsstarke Werkzeuge, die chemische Reaktionen beschleunigen. Unser Körper verwendet Enzyme, um Nahrung zu verdauen. In Waschmitteln helfen sie, Flecken zu lösen. Die Enzyme, die mich interessieren, können etwas Außergewöhnliches: Sie sind in der Lage, Plastik in seine Grundbausteine aufzuspalten. Diese Grundbausteine kann man dann, wie Lego, zu neuem Plastik zusammenbauen – genauso stabil und hochwertig wie das Original.
Die Tiefsee ist uns trotz aller Technologien noch immer weitgehend unbekannt. Kein Lichtstrahl erreicht den Meeresboden. Obwohl die Nahrung knapp ist, leben hier Organismen, die sich an die extremen Bedingungen angepasst haben. Mich interessieren die dort lebenden Bakterien, weil sich diese Mikroorganismen so rasch vermehren und sich deshalb schnell an neue Gegebenheiten anpassen können. Meine Theorie ist, dass diese Bakterien bereits Enzyme entwickelt haben, um das Plastik in ihrer Lebenswelt als Nahrungsquelle zu nutzen. Genau diese Enzyme suche ich.
Kurz nachdem die Schildkröte in der Tiefe verschwunden ist, blubbert es im Wasser nahe der Bordwand. Am Haken des Krans taucht der Kastengreifer, auch BoxCorer genannt, aus dem Wasser auf. Er ist eine Art Baggerschaufel, die eine Sedimentprobe vom 3000 bis 5000 Meter tiefen Meeresboden ans Tageslicht bringen kann.
Noch an Bord der „Sonne“ konserviere ich die zahlreichen Proben für die spätere Untersuchung im Labor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Hier gebe ich ein paar Wochen später einzelne Sedimentproben in Gefäße mit einer Nährlösung, in der allerdings ein Bestandteil fehlt: Kohlenstoff, der für alle Lebewesen lebensnotwendig ist. Den Bakterien in meinen Glasgefäßen biete ich nur eine Kohlenstoffquelle an: winzige Plastikteilchen. Das bedeutet: Nur die Bakterien, die sich von Plastik ernähren können, überleben und vermehren sich.
Nach einigen Monaten übertrage ich die Proben auf Petrischalen mit einem gallertartigen Nährmedium, das aufgrund der enthaltenen mikroskopisch kleinen Plastikteilchen trüb und undurchsichtig ist. Nach einigen Tagen ändert sich das: Das Medium wird durchsichtig, und ich weiß, die Bakterien haben das Plastik zersetzt. Dieser Moment ist ein großer Durchbruch für mich. Denn es bestätigte sich: Die Natur hat bereits eine Lösung für das Plastikproblem gefunden.
Dass Bakterien Plastik abbauen können, ist bereits bekannt. In Recyclinganlagen wurden vor einigen Jahren Bakterien gefunden, die sich an Plastik angepasst haben. Aber ich sehe, dass es selbst in der vom Menschen vermeintlich unberührten Tiefsee Bakterien gibt, die sich Plastik als Nahrungsquelle erschlossen haben.
Mithilfe gentechnischer Methoden entnehme ich die Enzyme aus den plastikfressenden Bakterien und lasse sie von einem anderen Bakterium, dem speziell dafür angepassten Escherichia coli, in großer Menge produzieren. So kann ich die Enzyme analysieren, optimieren – und deren Effizienz testen.
Mithilfe anderer Wissenschaftler:innen lasse ich mir von den vielversprechendsten Enzymen Kristallstrukturmodelle, also dreidimensionale Modelle der Struktur, erstellen. Damit kann ich am Computer untersuchen, was genau das Enzym so effizient macht. Ein besonders interessanter Teil der Struktur ist der „Mund“ oder das aktive Zentrum des Enzyms. Mit ihm spalten sie den Plastik hydrolytisch auf. Man könnte diesen Mund größer machen, damit die langen Plastikketten besser reinpassen. Auch muss das Enzym stabil genug sein, damit es unter industriellen Bedingungen funktioniert.
Indem ich das Enzym nach und nach anpasse, finde ich einen Mechanismus, der sich auf andere Enzyme übertragen lässt und die Menge an abgebautem Plastik verdoppeln oder sogar fast verdreifachen kann. Auch die Stabilität bei verschiedenen Temperaturen konnte ich optimieren und die Enzyme so praxistauglicher machen.
Bakterien, die mit diesem Enzym ausgestattet sind, könnten beispielsweise in Recyclinganlagen eingesetzt werden. Oder in Kläranlagen, wo das Plastik zusammen mit anderen Schadstoffen aufgelöst werden könnte. Denkbar ist auch, die Enzyme in zentralisierten Bioreaktoren direkt mit dem Plastik zu mischen. In Frankreich wird derzeit eine solche Anlage gebaut. In dieser sollen Polyethylenterephthalate (PET), aus denen die meisten Getränkeflaschen bestehen, abgebaut werden. Dabei wird ein Enzym, das den meinen ähnelt, mit pulverisiertem PET gemischt und in seine Grundbausteine aufgelöst. Diese Bausteine werden dann herausgefiltert und als Rohstoff genutzt. Vielleicht können diese Enzyme die Art und Weise, wie wir mit Plastik umgehen, revolutionieren. Dann wäre Plastikmüll eines Tages kein Problemstoff mehr, sondern ein wertvoller Rohstoff.
Am Ende meiner Reise blicke ich zurück auf einen Monat voller Herausforderungen und Erkenntnisse. Ich habe die endlose Weite des Nordatlantiks erlebt, die raue See und die atemberaubenden Sonnenauf- und -untergänge. In den Monaten danach habe ich bestätigen können, dass die Natur uns schon heute Werkzeuge bietet, um eines unserer großen Umweltprobleme zu lösen – Werkzeuge, die wir mit der richtigen Technologie verfeinern und industriell nutzen können. Meine Forschung ist ein kleiner Schritt in Richtung einer nachhaltigeren Zukunft, aber jeder Schritt zählt.
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Eine gute und eine schlechte Nachricht
Wie viel Plastikmüll treibt eigentlich im Meer?
Jahr für Jahr landen weltweit rund 8 Millionen Tonnen Plastikabfälle in den Meeren. So oder so ähnlich steht es in verschiedenen Studien. Zugleich zeigten Messungen an den Meeresoberflächen, dass dort nur rund 250.000 Tonnen Plastik treiben. Ein Großteil der Abfälle muss also in tiefere Schichten absinken.
Forschende um Mikael Kaandorp von der Universität Utrecht wollten es genauer wissen und erstellten ein Computermodell, mit dem sie die Kunststoffkonzentrationen in verschiedenen Meeresschichten simulieren konnten. Dabei nutzten sie rund 20.000 Messdaten, eine ziemlich große Datenmenge also.
Dabei zeigte sich, dass sich frühere Studien vor allem auf die Messung von Mikroplastikteilchen konzentrierten, die zahlenmäßig tatsächlich am häufigsten sind. Doch an der gesamten Kunststoffmasse haben sie nur einen kleinen Anteil. Denn 95 Prozent des Plastiks besteht aus Teilen, die größer sind als 2,5 Zentimeter und laut Kaandorp in früheren Studien wohl übersehen wurden. Er und sein Team bilanzierten nun: In jedem Jahr gelangen „nur“ 500.000 Tonnen Plastik ins Meer – und nicht 8 Millionen. Außerdem treiben inklusive der großen Partikel mehr Kunststoffe in Oberflächennähe, nämlich 2 Millionen Tonnen statt 250.000 Tonnen.
Dass weniger Müll im Meer landet, ist natürlich eine gute Nachricht – genau wie die, dass mehr davon in größeren Partikeln durchs Wasser treibt. Denn diese lassen sich auch leichter entfernen. Es gibt aber auch eine schlechte Nachricht. Denn aus dem jährlichen Plastikeintrag und der Menge, die derzeit im Meer schwimmt, konnten die Forschenden abschätzen, wie lange die Kunststoffe dort bleiben werden: Es sind viele Jahrzehnte. Die Gesamtmenge, so schätzen sie, steigt in jedem Jahr um rund 4 Prozent an. In nur 20 Jahren würde sie sich demnach verdoppeln. — J. Schüring