©Florin Petrescu/Getty Images

Neurowissenschaften Lernen aus der Zukunft

Geht es ums Gedächtnis, denken die meisten an die Vergangenheit. Tatsächlich ermöglichen dieselben Regionen im Gehirn uns auch lebhafte Vorstellungen von der Zukunft. So können wir sogar von Ereignissen lernen, die gar nicht statt­gefunden haben

von Dr. Philipp Paulus

Der Eisladen um die Ecke hat das Sortiment erweitert: Zitronen­eis mit Basilikum, Sellerie-Apfel-Sorbet und Gurkeneis mit einem Hauch Pfeffer­minze. Soll ich mich für eine dieser neuen Sorten oder für Himbeer­eis entscheiden? Himbeer­eis kenne ich. Spannender­­weise kann ich mir aber auch den Geschmack von Gurken­eis mit Pfeffer­minze lebhaft vorstellen, obwohl ich es noch nie probiert habe. Ich bin mir sogar sicher, dass es besser schmecken würde als Senfeis mit Schnittlauch. Was genau passiert im Gehirn, wenn wir uns Dinge vorstellen, die wir noch nie erlebt haben?

Jedes Erlebnis hinterlässt Spuren. Durch unseren ersten Kuss wird eine gewöhnliche Parkbank zu einem besonderen Ort, dank schöner gemeinsamer Erlebnisse eine Person zur besten Freundin. Und weil wir über viele Jahre hinweg unter­schiedliche Eissorten probieren, eine bestimmte zu unserem Lieblings­eis. Unser Gedächtnis hält die Ereignisse für die Zukunft fest und ermöglicht es uns so, aus unseren Erfahrungen zu lernen.

In Situationen, in denen wir uns nicht auf vergangene Erfahrungen verlassen können, erlaubt unser Gehirn uns aber auch den Blick in die Zukunft. Dabei passiert in unserem Kopf nahezu das Gleiche, wie wenn wir uns an etwas erinnern. Es sind dabei sogar fast dieselben Gehirn­regionen aktiv. Denn wenn wir uns ein vergangenes Ereignis wieder vor Augen führen, dann lehnen wir uns nicht in einem mentalen Sessel zurück und lassen uns von unserem Gedächtnis mit einer alten Aufnahme berieseln. Wenn wir uns erinnern, müssen wir das eigentliche Ereignis erst von Neuem zusammen­setzen.

Mehr als bloße Erinnerungen: Unser Gedächtnissystem im Gehirn erlaubt uns nicht nur den Blick in die Vergangenheit. Philipp Paulus untersucht, was im Gehirn passiert, wenn wir uns Ereignisse vorstellen, die so noch gar nicht stattgefunden haben
©Annette Mueck
Mehr als bloße Erinnerungen: Unser Gedächtnissystem im Gehirn erlaubt uns nicht nur den Blick in die Vergangenheit. Philipp Paulus untersucht, was im Gehirn passiert, wenn wir uns Ereignisse vorstellen, die so noch gar nicht stattgefunden haben

Es beginnt damit, dass wir die Kern­bestand­teile des Erlebnisses wieder­finden: Mit wem hat was, wann, wo statt­gefunden? Und wie hat sich das damals angefühlt? Diese Kern­bestand­teile nennen wir auch Gedächtnis­spuren. Um uns zu erinnern, müssen wir diese Spuren wieder aufnehmen. In einem nächsten Schritt bindet unser Gehirn diese Kern­informationen in eine Szene ein: Es platziert zum Beispiel die beteiligten Personen an den Ort, an dem das Ereignis statt­gefunden hat. Unser Gehirn reichert diese Szene nun um weitere passende Informationen an. Dadurch entsteht vor unserem inneren Auge ein lebhaftes Bild, das es uns erlaubt, das Ereignis und die damit verbundenen Gefühle erneut zu erleben. Wenn wir uns Ereignisse in der Zukunft vorstellen, dann läuft dieser Prozess fast identisch ab. Der wichtige Unterschied ist, dass wir uns dabei etwas mehr künstlerische Freiheit nehmen und gezielt Kern­bestand­teile unter­schiedlicher Erinnerungen auf ganz neue Art und Weise mit­einander kombinieren. So können wir uns vorstellen, wie Zitronen­eis mit Basilikum schmeckt.Im Rahmen der ersten Studie haben wir nach jenen Regionen im Gehirn gesucht, in denen solche Gedächtnis­spuren abgespeichert sind. Dazu sollten Proband:innen Personen nennen, die sie aus ihrem täglichen Leben kennen, und Orte auflisten, die sie bereits besucht hatten. Während des Versuches stellten sie sich dann typische Ereignisse mit diesen Personen oder an diesen Orten vor. Beispiels­weise ein Treffen mit der besten Freundin oder einen Spazier­gang an einem bestimmten Ort im Park. Während die Versuchs­personen sich diese Ereignisse vorstellten, beobachteten wir ihre Gehirn­aktivität mithilfe von funktioneller Magnet­resonanz­tomographie (fMRT). Das fMRT ermöglicht es uns, Aktivität im Gehirn zu messen und so für jedes vorgestellte Ereignis je eine Aufnahme der Aktivität im Gehirn anzufertigen. Besondere Aktivitäts­muster fanden wir insbesondere in einer Region im präfrontalen Kortex direkt hinter unserer Nasenwurzel. Aus den Aktivitäts­mustern in dieser Region konnten wir darauf schließen, an welche Person oder an welchen Ort unsere Versuchs­teilnehmer:innen gerade dachten.

Dort machten wir noch eine weitere spannende Entdeckung: Die Aktivitäts­muster waren sich immer dann besonders ähnlich, wenn die Teilnehmer:innen an Personen oder Orte dachten, die sie besonders gut kennen und besonders gerne mögen. Diese Region scheint also nicht nur die Gedächtnis­spuren allein abzubilden und zu speichern, sondern verbindet diese auch mit unseren Bewertungen und Einstellungen. Diese Funktion erlaubt uns bereits im Hier und Jetzt zu erahnen, wie es sich anfühlen würde, wenn bestimmte Dinge tatsächlich passieren würden.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Des Weiteren wollten wir wissen, ob solche vorgestellten Ereignisse auch Auswirkungen auf die Gegenwart haben können. Dazu führten wir folgenden Versuch durch: Die Versuchs­teilnehmer:innen sollten uns nun Personen nennen, die sie entweder besonders mögen oder überhaupt nicht leiden können. Zusätzlich ließen wir sie wieder Orte nennen, die sie aus ihrem Alltag kennen. An einigen dieser Orte sollten sie sich nun Treffen mit geschätzten Personen vorstellen. Sie sollten sich also beispiels­weise vorstellen, einer alten Schul­freundin über­raschender­weise zum ersten Mal in der Eisdiele um die Ecke zu begegnen. An anderen Orten sollten sie sich Ereignisse mit den Personen vorstellen, die sie nicht leiden können. Wieder beobachteten wir die Gehirn­aktivität im fMRT.

Und tatsächlich: Orte, an denen sich die Proband:innen Treffen mit netten Menschen vorstellten, wurden beliebter. Umgekehrt galt das Gleiche: Vorgestellte Begegnungen mit den unbeliebten Personen führten dazu, dass auch die Orte unbeliebter wurden. Die Einstellungen gegenüber den Orten änderte sich also durch die vorgestellten Ereignisse. Im Gehirn zeigte sich dieser Lernprozess in derselben Region im präfrontalen Kortex, die auch die Gedächtnis­spuren der Personen und der Orte abbildet. Je stärker diese Region aktiviert war, während die Versuchs­teilnehmer:innen sich die Ereignisse vorstellten, desto beliebter wurden die Orte. In einer weiteren Studie konnten wir schließlich zeigen, dass die Gedächtnis­spuren von einzelnen Personen und Orten miteinander verschmelzen, wenn die Versuchsteilnehmer:innen sie sich zusammen vor­stellten. Auch vorgestellte Ereignisse hinter­lassen also Spuren in unserem Gehirn.

So können wir aus der Zukunft lernen. Wenn wir uns lebhaft Ereignisse vorstellen, dann machen wir dadurch die Zukunft bereits im Hier und Jetzt ein wenig greifbarer. Das erlaubt es uns nicht nur vorher­zu­sehen, was genau passiert. Wir können sogar erleben, wie es sich anfühlen würde, wenn diese Ereignisse tatsächlich so einträfen. Dass wir von bloßen Vorstellungen lernen können, beleuchtet eine besonders bemerkens­werte Funktion unseres Gehirns: Deshalb müssen wir beim nächsten Besuch in der Eisdiele kein Senfeis probieren, um zu wissen, dass diese Option nicht infrage kommt. Statt­dessen können wir die nächste Gelegenheit ergreifen und heraus­finden, wie Gurkeneis mit einem Hauch Pfefferminze wirklich schmeckt.

Zum Thema

Das Hirn ist keine Festplatte

Erinnerungen sind Geschichten, die sich umschreiben lassen

Niemand mag das Vergessen. Dabei kann es ein Segen sein. Negative Erinnerungen, ausgelöst etwa durch den Duft eines Parfüms der verflossenen Liebe, lassen sich deutlich abschwächen. Wie das geht, haben Ann-Kristin Meyer und Roland Benoit vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neuro­wissenschaften herausgefunden.

Dazu beobachteten sie mithilfe von funktioneller Magnet­resonanz­tomographie die Gehirn­aktivität von Proband:innen. Die Forscher:innen zeigten ihnen zunächst das Bild eines Gummi­stiefels und danach eines von einer Flut. In diesem ersten Schritt verknüpften sie die beiden Bilder. Allein der Anblick des Gummi­stiefels löste negative Gedanken an eine katastrophale Zerstörung aus. Im Gespräch mit der ZEIT erklärte Roland Benoit das so: „Wenn wir etwas Intensives, womöglich sehr Emotionales und vor allem auch Unvorher­gesehenes erleben, macht eine bestimmte Hirn­region eine Art Foto von der Situation.“

Im zweiten Schritt des Experimentes zeigten die Forscher:innen nur den Gummi­stiefel – und forderten die Versuchs­teilnehmer:innen auf, beim Anblick so angestrengt wie möglich nicht an die Flut zu denken. Nicht ganz einfach, aber „die meisten konnten es ganz gut nach zehn Durch­gängen“, so Ann-Kristin Meyer. Die Verbindung zwischen Stiefel und Flut ließ sich also lösen.

Doch das Hirn ist keine Festplatte. Das Experiment ist harmlos im Vergleich zu den echten Erfahrungen traumatisierter Flutopfer. Immerhin wissen Forscher:innen schon heute, dass Menschen unter­schiedlich in der Lage sind, ihre Erinnerungen zu kontrollieren. Wer das besonders gut kann, entwickelt demnach nach traumatischen Erfahrungen seltener psychische Störungen wie die Posttraumatische Belastungs­störung (PTBS). — J. Schüring

Sie verwenden einen veralteten Browser oder haben Javascript in Ihrem Browser deaktiviert.
Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser oder aktivieren Sie Javascript.
x