„Mit unseren Methoden bereichern wir die Geisteswissenschaften“
Christof Weiß studierte Physik und Komposition. Heute arbeitet er als Informatiker an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaften. Ein Gespräch über die Bedeutung von Wissenschaftskommunikation – und die Frage, ob Künstliche Intelligenz komponieren kann
Christof, sag bitte mal in drei Sätzen, was du heute machst.
(Lacht) Sehr gerne, deine Frage erinnert mich an den „Küchenzuruf“, mit dem du mir damals den Aufbau des Vorspanns von Texten erklärt hast. Also: Ich bin seit 2022 Professor für Computational Humanities an der Universität Würzburg. Ich verbinde hier zwei Fachgebiete, nämlich die Informatik mit den Geisteswissenschaften. Ganz konkret arbeiten wir an Algorithmen zur Analyse von Musikaufnahmen, also von Audiodaten, um diese für die Musikwissenschaften nutzbar zu machen.
Damit hast du auf jeden Fall mein Interesse geweckt. Was kann ich mir darunter genau vorstellen?
Die Kolleginnen und Kollegen aus den Musikwissenschaften erforschen ja meist Komponisten oder Einzelwerke im Detail. Wir hingegen nutzen zahlreiche Audiodaten von Musikstücken und bearbeiten diese Daten mithilfe von Maschinellem Lernen, insbesondere von Deep Learning. Wir identifizieren auf diese Weise zum Beispiel in großen Musikdatensätzen bestimmte Strukturen und können dann Fragen stellen wie „Welche Unterschiede gibt es von Komponistin zu Komponist?“ oder „Wie verändert sich die Musik im Lauf der Zeit?“. Wir können auch Ähnlichkeiten zwischen Komponisten darstellen oder die Werke unbekannter Künstlerinnen und Künstler in ihrem Verhältnis zu gut erforschten wie Bach, Mozart, Beethoven oder Wagner verstehen.
Hast du dafür ein Beispiel?
Ja, so können wir allein auf der Basis von Audiodaten bestätigen, was aus der Musikforschung bereits bekannt ist – nämlich dass Johann Sebastian Bach mit seinen innovativen Kompositionen tatsächlich seiner Zeit voraus war. Sehr spannend war, als wir die Werke von Heinrich Schütz analysierten. Dabei konnten wir durch Messungen bestätigen, dass seine Werke im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges an harmonischer Komplexität verloren.
Könnt ihr auch etwas zu den Gründen sagen?
Genau hier befindet sich die Schnittstelle zu den Musikwissenschaften. Wir analysieren die Daten und liefern den Kolleginnen und Kollegen dort neue Ideen, welche diese mit etablierten Techniken weiter erforschen können.
Zur Person
Dr. Christof Weiß forscht und lehrt als Professor am Center for Artificial Intelligence and Data Science der Universität Würzburg. Er wurde 1986 in Regensburg geboren, studierte Physik an der Universität Würzburg sowie Komposition an der Hochschule für Musik Würzburg. Im Anschluss forschte er am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie in Ilmenau und an den International Audio Laboratories Erlangen. Für seinen Beitrag „Das ist Haydn. Ganz sicher!“ erhielt er 2018 den KlarText-Preis der Klaus Tschira Stiftung.
2018 hast du den KlarText-Preis gewonnen. Da dürfte dir die Fähigkeit, Schwieriges verständlich darzustellen, an dieser Schnittstelle sehr helfen, oder?
Ja, unbedingt. An unserem Zentrum für Philologie und Digitalität „Kallimachos“, in dem meine Arbeitsgruppe sitzt, betreiben wir ständig Wissenschaftskommunikation. Hier treffen diese zwei Welten – Geisteswissenschaften und Informatik – in ganz vielen Projekten aufeinander. Da geht es nicht nur um Musik, sondern auch um Literatur oder Archäologie. Hier arbeiten Menschen miteinander, die nicht nur an unterschiedlichen Themen forschen, sondern auch methodisch fundamental anders arbeiten. Dabei müssen sie voneinander lernen – damit beispielsweise ein Musikwissenschaftler in der Lage ist, uns die richtigen Fragen zu stellen. Und wir müssen etwas über die historischen Kontexte erfahren, um unsere mathematische Modellierung einordnen zu können.
Das hört sich gut an, ist in der Praxis aber sicher nicht immer einfach.
Absolut. Die Geisteswissenschaften haben es seit einiger Zeit generell nicht einfach. Die Studierendenzahlen sinken, und Fördermittel werden knapper. Wenn dann Leute aus den MINT-Bereichen kommen und mithilfe von Algorithmen Fragen aus der Musik- oder Literaturwissenschaft beantworten, dann fragen sich manche Forscherinnen und Forscher: „Nimmt mir die KI jetzt meinen Arbeitsplatz weg?“
Ist diese Sorge denn nicht berechtigt?
Aus meiner Sicht nicht. Unsere Methoden stellen in erster Linie ein neues Werkzeug dar, dessen Stärke in der Verarbeitung und der Analyse sehr großer Datenmengen besteht. Das kann ein Mensch nicht, wir stellen uns damit also auch nicht in Konkurrenz zu den Geisteswissenschaften, sondern sehen unsere quantitativen Ansätze als eine sehr leistungsfähige methodische Ergänzung. Die Maschine ist gut im Automatisieren und objektiven Vermessen, die Kontextualisierung und Bewertung der Ergebnisse muss durch den Menschen erfolgen. Und das ist das Wesen und die Stärke der Geisteswissenschaften.
Aber wie überwindet ihr im täglichen Dialog die sprachlichen Hürden eurer jeweiligen Professionen?
Aus meiner konkreten Erfahrung kann dieser Dialog nur auf Augenhöhe funktionieren. Man muss offen ins Gespräch gehen, und das ist nicht immer der bequeme Weg. Wer als Informatiker die Daten aus der Musikwissenschaft lediglich als Spielwiese zur Entwicklung seiner Algorithmen versteht, hat genauso verloren wie eine Musikwissenschaftlerin, die hofft, ihre Fragen mit ein paar „Tools“ aus der Informatik zu beantworten. Es geht um einen intensiven fachlichen Austausch, bei dem man die Arbeit der jeweils anderen zumindest in Grundzügen verstehen muss. Nur dann können wir mit unseren quantitativ-algorithmischen Methoden die Ideen und Vorstellungen der Geisteswissenschaften bereichern. Das lernen bei uns schon die Studierenden.
Wird dieses interdisziplinäre Denken die nächste Generation von Forscherinnen und Forschern prägen?
Ja, mit hoher Wahrscheinlichkeit. Bis zu ihrem Bachelor müssen unsere Studierenden auch ein geisteswissenschaftliches Fach belegen. Bei mir bekommen sie zudem einen Crashkurs in Musiktheorie. Wichtig ist vor allem, dass sie ein Bauchgefühl für die Musikdaten bekommen. Denn später müssen sie genau an dieser Schnittstelle fächerübergreifend kommunizieren können. Mir scheint deine Professur geradezu sinnbildlich für eine neuartige interdisziplinäre Zusammenarbeit von Natur- und Geisteswissenschaften zu sein, wie es sie noch nicht lange gibt. Das ist richtig. In meiner Arbeitsgruppe tasten wir uns neben der Musik an mehrere andere Schnittstellen heran, beispielsweise für die KI-gestützte Kolorierung antiker Tempel. Außerdem beschäftigen wir uns mit der Analyse von Filmen mit ihren riesigen Datenmengen. Allein der Ton besteht aus verschiedenen Schichten: Dialoge, Musik, Soundeffekte und Geräusche. Hinzu kommen natürlich die Bildsequenzen, aber auch Drehbücher.
Als Student hast du dich für beide Welten entschieden und zugleich Physik und Komposition studiert.
Stimmt, das Komponieren habe ich gelernt und lange aktiv betrieben, unter anderem mit Kompositionsaufträgen für das Mozartfest Würzburg oder anlässlich des 100. Geburtstages von H. E. Erwin Walther für die Stadt Amberg, für den ich 2020 meine Kammersymphonie „into the uncertain“ geschrieben habe. Aber dann kam neben der Professur auch die Familienplanung ins Spiel. Das ist eine besondere und intensive Lebensphase, die aber natürlich auch zeitliche Ressourcen einfordert, sodass das Komponieren derzeit etwas ruhen muss.
Wie komponiert ein Physiker und Informatiker?
Ich komponiere tatsächlich zum größten Teil ganz klassisch und analog. Die Strukturen des Stücks entwerfe ich im Kopf – das kann auch beim Radfahren passieren, wo ich die Ideen schon innerlich durchhöre. Zu Hause bringe ich das dann zu Papier, erst später kommt das Klavier zur Überprüfung ins Spiel. Das sind jeweils verschiedene kreative Prozesse auf mehreren Ebenen. Deshalb kann es helfen, zwischen den einzelnen Schritten der Komposition zeitlichen Abstand zu haben.
Aber da gibt es auch digitale Werkzeuge, richtig?
Ja, damit experimentiere ich auch gelegentlich, aber der Faktor Mensch ist mir in der Musik, die ich höre oder selbst komponiere, sehr wichtig. Rein KI-generierte Musik interessiert mich höchstens fachlich, nicht aber künstlerisch. Musik ist für mich eine Art der Kommunikation. Ich will wissen, was mir der schaffende Mensch mitteilen will. Die heutige generative KI reproduziert lediglich – wenn auch auf technisch sehr geschickte Weise – das, was Menschen früher geschaffen haben.